Fünfzig Jahre lang rollte die Tatrabahn an der Augustusburger entlang, jetzt wird das Modell außer Dienst genommen. Zum Jubiläum ein Artikel für Fans.

Am 25. Februar 1969 begann bei der Karl- Marx-Städter Straßenbahn eine ganz neue Ära. An diesem Tag gingen die ersten aus der Tschechoslowakei gelieferten Tatra-Straßenbahnen in den Liniendienst. Es begann ein Kapitel Verkehrsgeschichte, das nach 50 Jahre demnächst abgeschlossen ist. Bis zu zwei Dutzend modernisierte Triebwagen T3D-M rollen zuletzt noch täglich über die Straßen der Stadt.

Was  nicht allgemein bekannt ist: die Wurzeln der Bauart schlechthin liegen jenseits des Atlantiks, die Rede ist vom so genannten PCC-Wagen. PCC bedeutet „Presidents Conference Committee“, am Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts hatten sich (nord-) amerikanische Straßenbahnverwaltungen zusammengetan, um einen Einheitswagen zu entwickeln. Die Baumerkmale wurden in der Präsidentenkonferenz der US-Verkehrsbetriebe festgelegt und beinhalteten u.a.: Vierachsige Straßenbahn- Einrichtungstriebwagen mit Möglichkeit zur Doppel- und Dreifachtraktion, elektrische Ausrüstung mit Fußsteuerung und Beschleuniger, hohe Beschleunigungs- und Bremswerte, Geschwindigkeit von mindestens 60 km/h, aerodynamisch geformter Wagenkörper, keine Stufen und Unterteilungen im Innenraum.  (,„Präsident“ ist in diesem Zusammenhang mit „Geschäftsführer“ in unserem Sprachgebrauch gleichzusetzen, aber die Bezeichnung President hat den Fahrzeugen nun einmal den Namen gegeben.)

Amerikanische Straßenbahnen in Europa

Für Amerika kam die Entwicklung aber zu spät. Ursprünglich gab es riesige städtische und regionale Straßenbahnnetze, die sich heute nicht einmal mehr erahnen lassen. Der Siegeszug von Omnibussen und Privatautos war nicht aufzuhalten und immer mehr Straßenbahngesellschaften konnten „die Schrift an der Wand lesen“. Bis 1952 wurden lediglich etwa 5000 Einheiten nach dem PCC- Prinzip gebaut.

Anders in Europa. Durch den Zweiten Weltkrieg bestand überall ein dringender Bedarf an neuen modernen Straßenbahnen. So auch in Belgien; der 1948 zunächst aus den USA importierte Wagen ist auf dem Foto abgebildet. 1950 entstand bei La Brugeoise et Nivelle (BN) die erste Lizenzbahn, auch FIAT in Italien baute nach diesem Vorbild und die schwedische ASEA ohne Lizenz.

Der erfolgreichste PCC-Lizenznehmer kam aber aus der Tschechoslowakei. Bereits in den 1920er Jahren  ging der Vorgänger des späteren Prager Straßenbahnproduzenten CKD Tatra, die Firma Ringhoffer, eine Kooperation mit dem amerikanischen Elektrotechnik- Hersteller Westinghouse ein, um elektrische Komponenten nutzen zu können. Eine 1938/ 39 abgeschickte Dokumentation zur Fahr- und Bremssteuerung nach dem PCC-Prinzip erreichte Prag erst nach dem Krieg. 1947/ 48 erwarb CKD Tatra von TRC in New York eine weiterreichende Lizenz, die nun auch Drehgestelle und Lüftungssystem betraf. Durch die Belieferung fast des ganzen Ostblocks entwickelte man sich in Prag in der Zukunft zum größten Straßenbahnhersteller der Welt, etwa 25 Jahre lang entstanden die Fahrzeugmodelle auf PCC-Basis. Im Jahre 1951 wurden der erste neu entworfene Wagen, der Tatra T1, vorgestellt und später mit den Serienfahrzeugen zahlreiche Betriebe in der Tschechoslowakei beliefert. Einige Wagen gingen aber auch nach Polen und in die Sowjetunion. Der T2, ab 1958 produziert, wurde je zur Hälfte in die CSSR und UdSSR geliefert.

Tatra T3/ T4 weltweit meistgebaute Straßenbahn

Eine noch nie da gewesene Erfolgsgeschichte begann 1960 mit der Auslieferung des T3. Mit der etwas schmaleren Variante T4 zusammen ist dieser Typ bis heute weltweit die meistgebaute Straßenbahn (und lässt damit sogar den sowjetischen KTM-5 hinter sich.) Zu den regulär 16630 gebauten Trieb- und 992 Beiwagen kann man noch einige umgebaute T1 rechnen, die später den Wagenkasten des T3 erhielten. Von Dezember 1964 bis zum Sommer 1965 konnten in Dresden drei originale Prager T3-Triebwagen getestet werden. Dies führte letztendlich zur Vereinbarung innerhalb des RGW, Straßenbahnen für die DDR ab 1967 nur noch aus der CSSR zu beziehen.

Nach dem Probebetrieb wurden auch die ersten Serienfahrzeuge des schmaleren Typs T4D ab 1967 nach Dresden geliefert. Weil sich in Karl- Marx- Stadt ein normalspuriges Straßenbahnnetz erst neu im Aufbau befand und man mit größeren Gleisabständen planen konnte, waren hier Fahrzeuge in der ursprünglichen Wagenbreite von 2,50 m einsetzbar. Die ersten vier Triebwagen (Nr. 401 bis 404) sind noch Baujahr 1968, bis 1988 wurden dann insgesamt 132 Triebwagen T3D und 62 Beiwagen B3D an die Chemnitz geliefert. Nach der Stilllegung der letzten Schmalspurstrecke Ende 1988 wurde der gesamte Linienverkehr mit Tatras abgewickelt. Dieser Zustand dauerte bis zur Indienststellung der ersten Variobahn 1993/ 94 an.

Interessante technische Details

Gemäß der PCC- Entwicklung haben alle Tatra- Triebwagen eine pedalbediente Beschleunigersteuerung mit Schützen und Widerständen. Der Vorteil sind u.a. hohe Beschleunigungs- und Bremswerte, der Nachteil ein sehr hoher Stromverbrauch, denn die Fahrmotoren sind ständig parallel geschaltet. Für den Fahrer ist die Pedalsteuerung etwas störrisch und „hakelig“, beispielsweise können Fahrfehler beim Beschleunigen zu einer Selbstbremsung des Triebwagens führen. Ideal ist das reguläre Bremsen, die Verzögerung kann sehr stark sein und der Wagen bleibt bei einer bestimmten Pedalstellung garantiert stehen. (Bei älteren Straßenbahnen war hierzu eine zweite Kurbel oder „Ratschenbremse“ notwendig.) Und – ideal für die Chemnitzer Bergstrecken – fährt man unterhalb einer Geschwindigkeit von 30 km/ h eine Steigung  hinab, hält der Wagen ohne Treten des Bremspedals von alleine die Geschwindigkeit.

Die große Einstiegshöhe ist durch die komplizierte Steuerung beding, die komplett  unter dem Fahrzeugboden untergebracht ist. So ist der Fahrschalter, d.h. der Beschleuniger, waagerecht neben der mittleren Tür eingebaut. Er hat die Form einer großen Scheibe mit 99 Schaltkontakten. Beschleunigersteuerung bedeutet, man kann nur beschleunigen, rollen lassen oder bremsen, nicht aber mit einer gleichbleibenden Geschwindigkeit „unter Strom“ fahren. Das tatratypische laute „Klacken“ entsteht, wenn der Fahrschalter am Ende eines jeden Beschleunigungsvorganges abgeschaltet wird. (Genau dieses Geräusch ist den Tatra- Fans wie Musik in den Ohren.)

Anfang der 90er Jahre ließen alle ostdeutschen Verkehrsbetriebe ihre Tatra- Fahrzeuge modernisieren. Die äußerlich größte und dabei sehr gelungene Veränderung erfuhren die Chemnitzer Wagen. Ein wuchtiges Prallelement am Bug, eine neue Dachform sowie neue Türen und Drehgestellverkleidungen lassen die alte Form kaum mehr erahnen. Dafür wurde allerdings die originale PCC- Steuerung mit Fußsteuerung und Beschleuniger beibehalten. 1992/ 93 wurden insgesamt 36 Trieb- und 14 Beiwagen vom Waggonbau Bautzen umgebaut. Der überwiegende Teil verkehrte nun in den Stadtfarben blau/ gelb. Sie sind heute nicht mehr alle im Einsatz, die Beiwagen wurden komplett abgestellt. In der Regel verkehren zwei Triebwagen in Doppeltraktion, diese Züge sind auch im Fahrplan erkenntlich.

Nachdem Ende des vergangenen Jahres das erste Exemplar der Skoda- Niederflurbahn „ForCity“ in Dienst gestellt wurde, wird der Bestand der Tatra- Triebwagen mit der Ankunft weiterer neuer Bahnen abnehmen.

Einige Tatras sollen aber als Reserve erhalten werden. Als historische Fahrzeuge im Originalzustand sind drei Fahrzeuge erhalten – Triebwagen 401 in fahrfähigem Zustand, Triebwagen 402 ist gegenwärtig abgestellt. 1968 gebaut, sind beide bereits über 50 Jahre alt! Der Beiwagen 713 (Baujahr 1973) ist schon länger abgestellt.

Text und Fotos: Christoph Pohl

Danke an den Experten aus Radebeul, der uns ehrenamtlich das Material zur Verfügung gestellt hat!