Nach dem Bau der Eisenbahnlinie von Chemnitz nach Riesa 1852 und dem dafür 1854 vor der Stadt errichteten Bahnhof, dehnte sich die Stadt Chemnitz nach Norden und Osten immer mehr aus. Durch die 1858 eröffnete Linie von Chemnitz nach Zwickau mit dem Schienenübergang über den Dresdner Platz ergab sich, dass auf der 1,3 km langen Strecke zwischen dem Dresdner Platz/Waisenstraße und der Wettiner Straße (heute August-Bebel-Straße) keine Wegeverbindungen für Fußgänger und Handwagen bestanden.

 

Stadtplan von 1889 mit eingezeichnetem Tunnel und der markierten Waisen- und Wettiner Straße

 

Zu beiden Seiten des Bahnhofes und der Eisenbahnlinie entstanden Straßen, welche fast rechtwinklig zur Dresdner Straße bzw. zur Schillerstraße (heute Straße der Nationen) führten und dort endeten. Es fehlte die Verbindung zwischen der wachsenden Ostvorstadt (Sonnenberg) und den westlichen Stadtteilen.

Schon in den 1860er Jahren entwickelte sich deshalb die Forderung nach einer Wegverbindung über oder unter dem Bahnhof. Im Jahr 1874 wurden verschiedene Anträge gestellt, u.a. mit dem Projekt einer 208m langen Hängebrücke über die Gleise von der Oberen Aktienstraße (heute Minna-Simon-Straße) nach der Dresdner Straße. Dieses wurde aber verworfen.

Erst im Jahr 1878 befasste sich der Rat der Stadt mit dem Plan eines Unterführungstunnels. Nach mehrjährigen Verhandlungen zwischen der Sächsischen Staatseisenbahn und den Behörden der Stadt Chemnitz brachte die 1885 geplante Erweiterung des Bahnhofes das Unterführungsprojekt wieder auf die Tagesordnung.

Das Königliche Finanzministerium bewilligte schließlich 80.000 Mark und überließ der Stadt die Leitung und die Beaufsichtigung des Baus ebenso wie die Entscheidung über den Querschnitt des Tunnels, der dann mit 5,0m lichte Weite und 3,5m lichte Höhe festgelegt wurde.

Mit der Projektierung und der Leitung des Baues des 217 m langen Tunnels wurde seitens der Königlichen Generaldirektion der Staatseisenbahnen das Abteilungsingenieurbüro Chemnitz I beauftragt.

Für die Tunneleingänge entwarf der Architekt Georg Wack von der Stadtbauverwaltung eine Sandsteinverkleidung und entsprechende Bekrönungen.

 

Entwurfszeichnung des Tunneleingangs an der Dresdner Straße von Architekt Georg Wack

 

Noch vor der Unterzeichnung des Vertrages durch den Rat der Stadt Chemnitz und einen Vertreter der Stadtverordneten am 16.02.1888 sowie durch die Königliche Generaldirektion der sächsischen Staatseisenbahn am 26.03.1888  und der offiziellen Genehmigung durch das Königliche Finanzministerium am 06.04.1888, begannen in der zweiten Hälfte des Monats November 1887 die Arbeiten für den mit einer Länge von 217 m projektierten Tunnel von beiden Seiten gleichzeitig, d.h. von der Oberen Aktienstraße/Ecke Mauerstraße und der Dresdner Straße aus.

Während der Bauphase wurde der Bahnbetrieb in vollem Umfang aufrecht erhalten. Bauausführende waren die Unternehmer  S e i m & R i e d e l, die sehr gute und ausdauernde böhmische und italienische Arbeiter und Maurer beschäftigten.

Die geringe Überdeckung des Tunnels  von nicht einmal 1 Meter ließ nur eine Herstellung in offener Bauweise zu.

Der Tunnel wurde unter 30 Betriebsgleisen hinweggeführt und in Gewölbebauweise realisiert.

Zwischen den Gleisen wurden Lichteinfallschächte für die 13 Oberlichter mit einer lichten Breite von 2,0 m aufgemauert, die über die ganze Breite des Tunnels reichten.

Durch die vorhandenen 13 Oberlichter war eine ausreichende Tagesbeleuchtung geschaffen. Durch die Erweiterung des Bahnhofes und der Gleisanlagen kam es in den folgenden Jahren zur schrittweisen Verlegung von Gleisen und der damit verbundenen Beseitigung der Oberlichter. Deshalb wurde schon bald im Tunnel eine künstliche Beleuchtung in Form von Schiffsarmaturen (Schiffslampen) installiert, die über -zig Jahre die einzige, allerdings sehr trübe Beleuchtung darstellte und erst vor nicht allzuviel Jahren durch etwas hellere Lampen ersetzt wurde.

 

Lageplan des Bahngeländes 1899 mit eingezeichnetem Tunnel und den 13 Oberlichtern, oben Dresdner Straße, unten Mauerstraße

 

Nach Einsetzen des Schlusssteines in das Gewölbe etwa in der Mitte des Tunnels war der Rohbau beendet und der Tunnel konnte am 03.11.1888 begangen werden.

Die Restarbeiten  –  Fertigstellung der Tunnelsohlenschleuse, Einbringen des Asphaltbelages, Befestigen der Rampe an der Ostseite des Tunnels, Einbringen der Oberlichtfenster und Anbringen der Eingangstore – wurden bis zum 23.12.1888 abgeschlossen, so dass am 02.01.1889 die Freigabe des Tunnels vom Stadtrat der Stadt Chemnitz für den öffentlichen Verkehr erfolgte.

Die veranschlagten Kosten für den Tunnelbau von 250.000 Mark wurden mit 235.188 Mark unterschritten.

Entgegen den Erwartungen vermehrte sich der öffentliche Verkehr ungemein, weshalb die ursprünglich bestimmte Schließung der Gittertore des Tunnels von abends 23 Uhr bis früh 5 Uhr bald aufgehoben wurde.

Die aus der Anfangszeit des Tunnels stammenden an den Wänden über den Fußbodeneinläufen angebrachten weißen Emailleschilder mit der Aufschrift „Nicht auf den Boden spucken, hier Einfall benutzen“ ermahnten noch lange nach dem Krieg die Passanten zu Ordnung und Sauberkeit, kannten aber nicht den vom Volksmund geprägten Ausdruck „Bazillenröhre“.

Während des 2. Weltkrieges wurde der Tunneldurchgang als Schutzraum für Passanten, die unterwegs von etwaigem Bombenalarm überrascht wurden, „nachgerüstet“. Dazu mauerte man im Abstand von etwa 60,0 m jeweils links und rechts im Wechsel versetzte Wände aus Ziegelsteinen bis etwas über die halbe Durchgangsbreite des Tunnels. Damit sollten die Splitterwirkungen von Sprengbomben im Bereich der Tunnelzugänge abgeschirmt werden. Diese Wände wurden erst 1947 entfernt.

Das Tunnelbauwerk blieb im Krieg bei allen Angriffen von Treffern verschont und auch in den Zugangsbereichen an der Dresdner- und Oberer Aktienstraße kam es zu keinen Einschlägen.

In den ersten Nachkriegsjahren wurde der Tunnel ein zugleich wettergeschützter und von Kundschaft belebter, begehrter Platz für Kriegsinvalide, die durch einen kleinen Straßenhandel mit Kurzwaren oder als Musikanten etwas Verdienst erzielen wollten.

Der Tunnel besteht bis heute außer geringfügigen Änderungen noch immer in seiner ursprünglichen Bauweise.

Lediglich ab und zu wurde die Tunneldecke weiß gestrichen, während die Wände vor allem nach 1990 den vielfältigsten „Künstlern“ überlassen wurden.

 

Der sanierungsbedürftige dunkle bemalte Tunnel 2012

 

Erst in den Jahren 2008 bis 2011 wurde der Zugang von der Dresdner Straße im Treppen- und Rampenbereich durch das Projekt „Art-Mauer“ ein Hingucker. Auf Initiative von Dmytro Remestvensky vom Stadtverband der Caritas wurden von Kindern des Zeichenkreises der AG In- und AusländerInnen mit Genehmigung der Deutschen Bahn, Besitzer des Bauwerkes, zahlreiche Bilder gestaltet. Das mit 10 m² größte und schönste Bild grüßte alle, die durch den Tunnel zum Sonnenberg kamen mit „Willkommen auf dem Sonnenberg“.

 

Blick aus dem Tunnel zum Bild „Willkommen auf dem Sonnenberg“

 

Im Zuge des Umbaus des Bahnhofs und Neubaus des Dresdner Platzes wurde im Sommer 2012 der außerhalb der Bahnsteighalle liegende Teil des Bahnhofstunnels von außen gegen das ständig eindringende Wasser abgedichtet. Damit war eine wichtige Grundlage für eine Sanierung des Tunnels im Inneren geschaffen.

 

Abdichtung des Tunnels 2012

 

In den Jahren 2013/2014 kam Bewegung in die seit -zig Jahren angemahnte optische Verbesserung der Ausgestaltung des Tunnels, nachdem bereits am 10. Mai 2011 in einer Einwohnerversammlung nicht nur die Verlängerung des Bahnsteigtunnels, sondern auch die Zukunft des Bahnhoftunnels vorgestellt und diskutiert wurden. Ausgehend von Initiativen von Bündnis 90/Die Grünen und dem Stadtteilmanagement Sonnenberg kam es zu Treffen und Workshops u.a. mit der Stadt, der Bahn und Bürgern des Sonnenberges.

 

Treffen Bündnis90/Die Grünen mit dem Stadtteilmanagement, Vertretern der Stadt, Vereinen und Sonnenbergern am 13. März 2014

 

Die noch 2010 angedachte Schließung des Bahnhoftunnels war nun kein Thema mehr und so stellten im August 2015 drei Künstler ihre Vorschläge zur Gestaltung des Tunnels vor und Ende 2015 wurde das Projekt der Sonnenberger Lichtkünstlerin Anke Neumann, das Lichtbänder im Tunnel mit wechselnden Farben und ein Zitat der Band Kraftklub vorsieht, Grundlage für die weitere Arbeit.

Bereits im Mai 2015 wurde die Verkehrsfläche zwischen Minna-Simon-Straße (früher Obere Aktienstraße) und Dresdner Straße als Geh- und Radweg gewidmet und damit eine entscheidende Grundlage für die Sanierung des Tunnels geschaffen.

Im Frühjahr 2020 war es dann endlich soweit. Bis Juli 2021 erfolgte als 1. Bauabschnitt die Umsetzung des Projektes „Barrierefreie Gestaltung der Fuß- und Radverkehrsanbindung Sonnenberg“.

Leider, aber zwangsläufig, fielen der Sanierung der Stützmauer an der Dresdner Straße die „Art-Mauer“-Kunstwerke zum Opfer. Auf der gegenüberliegenden Seite sind sie noch erhalten.

 

Die fertig sanierte Stützmauer und erneuerte Treppe

 

Während des 1. Bauabschnittes wurde im Rahmen der Kunstausstellung GEGENWARTEN im Sommer 2020 mit der violetten Beleuchtung des Tunnels gezeigt, was möglich ist, wenn es auch nicht bedeuten sollte „Der letzte Versuch“.

 

Der Tunnel 6 Tage nach dem Beginn der Kunstausstellung GEGENWARTEN am 21. August 2020

 

Der 2. Bauabschnitt folgte vom 06.April 2021 bis 02. November 2021 mit der Sanierung der Tunnelröhre, so dass einen Tag später der Bahnhofstunnel für Fußgänger und Radfahrer freigegeben wurde.

Für beide Bauabschnitte wurden von der Stadt 1,18 Mio Euro eingesetzt, von denen 80 % aus dem Europäischen Strukturfonds EFRE kamen.

Bis zum 22. Dezember 2021 brachte die Schlosserei Thomas Altenkirch die nach Vorlage der Künstlerin Anke Neumann gefertigten Buchstaben zur Wandgestaltung an.

 

Anke Neumann und Thomas Altenkirch bringen den letzten Buchstaben an

 

Im langsamen Vorbeigehen kann man nun die Textzeile aus dem Song „Wie ich“ von Kraftklub lesen:

„ICH  WÄR‘ GERN WENIGER WIE ICH, EIN BISSCHEN MEHR SO WIE DU“

 

Autor: Eckart Roßberg

 

Der bis auf die Lichteffekte fertige Tunnel

 

Bildnachweis      

Bild 1              Sammlung Eckart Roßberg

Bild 2              Sammlung Thomas Hebenstreit

Bild 3              Sammlung K. Mann

Bild 4 bis 11   Fotos Eckart Roßberg