Gedankenreise für drei Minuten

 

 

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich im Jahre 1933. Alle Gebäude im Braun- und Grauton wie auf alten Fotos. Ein geschäftiges Markttreiben herrscht rund um die Markthalle. Kurt Schulze rollt hierher – jeden Tag mit seinem hölzernen Handwagen, um für sein Lebensmittelgeschäft auf der Petersstraße / Ecke Hainstraße frische Waren einzukaufen. Einen Teil davon lässt er mit der Güter-Straßenbahn auf den Gleisen der Linie 8 nach Hause liefern. Er wohnt auf der gleichen Etage des Ladens mit seiner Frau Helene und seinen Töchtern Traudel und Christa.

Helene steht im Laden, wenn ihr Mann für ein paar Stunden vormittags auf Einkaufstour geht. Die Kinder lernen zu der Zeit in der nahe gelegenen Lessingschule. Christa ist die jüngere von beiden und kommt schon mittags nach Hause. Sie ärgert sich immer, dass sie zuerst den stehen gelassenen Frühstückstisch wegräumen muss. Das Pflichtspiel der Kinder geht stets vor dem Vergnügen, dem eigentlichen Spiel im Hof. Doch toben ist dort auch nicht erlaubt. Erst recht nicht für Mädchen in dem kleinen Eckhof ohne Grün und Baum. Von einer großen Bretterwand hat man einen tiefen Blick zum Nachbargrundstück in den Hof mit Bäumen – welch eine Augenweide und Sehnsucht! Schmidts hatten zwei große Söhne, Familie Günther sieben Kinder, die auch im Hof Kreisel peitschten und die Mädels jede in einer anderen Hofecke mit ihrer Puppenkutsche spielten. Insgesamt waren es 14 Kinder und Jugendliche, die in dem Haus wohnten, das auch eine Bäckerei und einen kleinen Möbelladen beherbergte. Christa fragt sich, wo die großen Kinder bloß im Winter den vielen Schnee für den Bau von Schneehäusern hernahmen – sicher von der geteerten Straße. Zu Kinderfesten hing Vater Kurt im Hof mit Süßigkeiten gefüllte Papiertütchen auf, die die Kinder mit einem Stock runterklopfen sollten – ganz ähnlich dem mexikanischen Pinata-Brauch. Doch diese Momente gab es nicht alle Tage. In der Regel musste Christa ihren Vater vom Tunnelberg (der heutigen Bazillenröhre) abholen und den Handwagen die Fahrradrampe mit hochkarren oder beim Wäsche auf- und abhängen ihrer Mutter zur Hand gehen

Vater Schulze hatte das Geschäft aus Insolvenz heraus übernommen. Mitunter, kauften die Sonnenberger in den Jahren großer Arbeitslosigkeit nur 3 Kartoffeln und ein paar Gramm Zucker. Während der zunehmenden Bombennächte im Winter 1944/45 war er als Luftschutzhelfer mit der Chemnitzer Feuerwehr im Einsatz, auch im brennenden Berlin (dort angekommen mit gefrorenem Wassertank). Er hat das Glück, oft zu Hause zu sein, und doch fühlt er die Front näher kommen. Ein Bauchgefühl sagt ihm, Frau und Kinder aufs Land in Sicherheit zu den Großeltern nach Reichenbrand und den Schwiegereltern nach Gersdorf zu bringen, nach dem ersten Angriff im Februar 1945, wo die Scheiben des Wohnhauses schon zerborsten waren. Sein Bauchgefühl hatte ihn nicht getäuscht. Schließlich kannte er die Kriegstaktik von der Front im Einsatz aus dem 1. Weltkrieg.

Das Eckhaus in der Nähe des Hauptbahnhofes wurde beim großen Bombenangriff am 5. März 1945 durch eine Luftmine zerstört. Es wurden sieben Bewohner im Keller verschüttet und kamen ums Leben. Ein Teil des Hauses auf dem Sonnenberg stand wohl noch, aber ohne Fenster. Man konnte von der Straße direkt auf Möbel und Canapé schauen. Kurt Schulze wollte noch einiges retten, doch es war zu gefährlich, untransportable große Sachen herauszuholen. Ein Auto konnte sich die Kleinfamilie von den Einnahmen des Ladens nicht leisten und zu Kriegsende bekam man auch kein Auto gechartert. Nur ein Pferdefuhrwerk klapperte mit dem nötigen Hab und Gut nach Gersdorf.

Daraufhin folgt Christas Pflichtjahr bei einem Bauern in Euba. Dort musste sie nicht hungern wie so manche Städter aus „Ruß-Chamtz“, vor allem in den Nachkriegsjahren. Kurt versuchte es übergangsweise als fahrender Händler für Pappen und Sperrholzscheiben, denn alles Glas der Fenster war zerborsten unter dem Kriegsgreuel. Später vertrieb er Gebrauchtwaren aus Holz und Spielzeug. Doch nur für einen kleinen Zugewinn, bis er eine Anstellung in der Gießerei in Lugau /Erzg. annahm. Aber wegen der schweren Arbeit wechselte er nach ein paar Jahren als Küster zum Diakonat der Stadtkirche Lugau, wo die ganze Familie auch wohnen konnte und unweit der nahen Schule einen Kleingarten pachtete. Die Großeltern aus dem Nachbarort Gersdorf wanderten in die BRD aus und es bestand die Möglichkeit für Tochter Christa mit ihrem Mann Erich eine Siedlungshaushälfte zu beziehen.

Nun ist Christa 95 Jahre alt und erzählt gerne wieder die Geschichten von Leid und Leben im alten Chemnitz ihrem Enkel Robert, der die Evang. Buchhandlung Max Müller seit 2011 als Inhaber leitet und seit 2022 auch die Buchhandlung Universitas am Campus betreibt.