Die Martinstraße

Im  Frühling bietet die Martinstraße im oberen Teil mit den blühenden Zierkirschbäumen einen sehr stimmungsvollen Anblick. Zwar empfängt uns auch die Sonnenstraße mit einem Blütenmeer ihrer Zierkirschen, doch in der Martinstraße rückt zusätzlich die im Frühlingslicht glänzende Sonnenuhr ins Bild. Und wer beim Spaziergang hier eine Pause auf einer der Ruhebänke einlegt, kann sich nach einem alten Spruch sagen: Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die schönen Stunden nur! So fühlte es sich an, als ich 2008 dieses Motiv als Aquarell malte, das ich „Frühling in der Martinstraße“ nannte. Ein kleiner, schöner Platz, von denen man nicht allzu viele im Stadtteil Sonnenberg findet.

Doch nicht immer war es hier so beschaulich. Diese Straße war als einzige des Stadtteils im 2. Weltkrieg durch Bomben total zerstört worden und erst 1991/92 konnte in diesem Bereich die neue Bebauung vollendet werden. Inzwischen verschönern neue Farben die Häuser und auch die Sonnenuhr strahlt wieder im alten Glanz.

Doch nun erscheinen mir wieder jäh die Schatten der Vergangenheit über dem friedlichen Idyll.

Es sind die Bilder vom aktuellen Kriegsgeschehen in der Ukraine, die mich an den Anblick der einst zertrümmerten Martinstraße erinnern. In meinem Kopf tritt ein altes Foto über das Frühlingsbild von 2008 hervor: Der Blick  von der Jakobstraße hinauf zum Körnerplatz über das Trümmerfeld im Jahr 1946. Als geborener „Sonnenberger“ vom Jahrgang 1939 erlebte ich die Bombenangriffe im Frühjahr 1945 schon recht bewusst und so sah ich wieder die brennende Martinstraße nach dem Nachtangriff vom 5. März in meiner Erinnerung.

Damals auf der Forststraße wohnend, hatte die Familie den Angriff mit geringem Schaden glücklich überstanden. Noch im Morgengrauen kam ein Onkel mit dem Fahrrad aus Siegmar, um zu sehen, ob wir noch lebten. Keiner wusste, was noch folgen würde und man beschloss, nach Siegmar zu gehen. Während Mama und die Großeltern sich zu Fuß auf den Weg  machten, nahm  mich der Onkel aufs Fahrrad und wollte vorauseilen. Doch es wurde eine schwierige Fahrt. Über Reinhardt- und Markusstraße war der Körnerplatz bald erreicht. Aber an der Markuskirche war der Weg durch die Martinstraße versperrt: Mächtige, dunkle Rauchwolken stiegen empor, Trümmer auf der Straße, Flammen aus den Fenstern und Menschen hasteten mit Habseligkeiten zum Körnerplatz. Plötzlich Warnschreie und rennende Menschen – eine Hausfassade stürzte ein, Funken wirbelten auf  und Flammen  loderten in den rauchschwarzen Himmel. Diese Straße konnte keiner mehr passieren. Die zerstörte Stadt erforderte viele Umwege. Erst nach vielen Stunden  kamen wir schließlich ans Ziel.

In späteren Berichten war zu lesen: Von den 38 Wohnhäusern der Martinstraße wurden in dieser Nacht 33 Häuser völlig zerstört. 5 Häuser überstanden mit Teilschäden, davon blieben nur 3 bis zum Beginn der Neubebauung im Jahr 1986 bewohnbar. Ein erster, optimistischer Lichtblick war der Bau des Kindergartens an der Ecke Martin-/Sonnenstraße 1955/56. Danach verblieben die beräumten Trümmerflächen bis zur beginnenden Neubebauung im Jahr 1986. Als ein nachdenkliches Geschehen verbleibt der Rückbau der ersten Neubauten von 1986/68 zugunsten der „Bunten Gärten“.

Im Blick auf die aktuellen Ereignisse mahnt die Erinnerung: Zerstört ist in wenigen Augenblicken – ein Neuaufbau braucht Jahrzehnte. Und wann endet die Trauer um die Menschopfer? Krieg löst keine Probleme – er schafft neue und schlimmere.

Autor: Hilmar Uhlich, AG Sonnenberg-Geschichte

 

Zeitzone

Jeden Morgen geht die Sonne auf, seit einigen Wochen auch wieder vor dem 7-Uhr-Läuten der Markuskirche. Sie wirft von Osten her die Strahlen auf die Sonnenstraße. An der Sonnenuhr kann man, der Renovierung im April 2021 sei Dank, die Uhr lesen. Es ist Frühling, ein windiger, geworden, nun schon Sommer, ein trockener Mai. Die Natur hat ihre Zeiten, der Klimawandel verändert Niederschlag und Temperaturen. Man muss schon mehr gießen.

Unterhalb der Metallplastik von Peter Schmidt wächst es kräftig, es blüht teilweise schon wieder farbenfroh. Herr Schmidt und seine Frau sind fleißige Mit-Gärtner an der Blumenuhr geworden. Die Zeit seit dem Anpacken im Rahmen des Nimm-Platz-Projekts 2020 ist rasch verflogen.

Denn die Zeit bleibt nicht stehen. Die Informationen aus aller Welt kommen schneller, verdichteter und wiederholender. Sie fordern ordnenden Pragmatismus und stetes Einordnen von Bildern wie gerade aus der Ukraine. Erschüttert zu sein, Worte fehlen zu lassen und doch berappeln, schauen, was kann ich mit meinen Fähigkeiten und Kräften tun. Ständig wieder den Fokus zu finden. Mit dem Smartphone haben wir das Leid der Welt und damit den brutalen Krieg Putins immer einen Griffweit dabei – alles in Echtzeit. Im Liveticker.

Bei all der Ablenkung durch digitale Endgeräte, bei all dem, was man noch (auf dem Sonnenberg) anpacken könnte, und bei all den Anforderungen, die an Berufstätige nun eben gestellt werden. Dem zu entfliehen, die Zeit anhalten. Das gelingt nicht von selbst.

Die Zeit, die Komplexität des Weltgeschehens, für mich mal stehen lassen, das gelingt mir ausgerechnet an der Uhr sehr gut. Das Homeoffice mal zu verlassen, Arbeitshose und Spaten, statt Zoom-Meeting und Kalender-App. An der Uhr was mit den Händen machen – für kopf- und tastaturarbeitende Menschen wie mich sehr wohltuend. Der Alltag der wuseligen Sonnenstraße rauscht vorbei und manchmal sitze ich einfach in der Mitte. Zupfe Unkraut heraus, schaue, was ist wieder gekommen aus dem letzten Sommer, und staune, was innerhalb von Tagen wieder gewachsen ist.

Manche Pflanzen wie die Malve, der Wiesenkopf und ein paar Kräuter kamen aus dem letzten Jahr wieder. Einiges muss wieder neu gesät und aus Setzlingen des Saatgutgartens großgezogen werden. Wenn man im Tagtraum versinkt, läutet die Markuskirche wieder zu vollen Stunde.

Die Flucht aus dem Alltag beenden. Zurück nach Hause, Kleidung wechseln, frischen Kaffee brühen. Es blinkt schon die Kalender-App: Meeting. Der Webbrowser meldet Schlimmes aus Kyjiw

Nur der Dreck unter den Fingernägeln erdet noch ein wenig nach.

 

Autorin: Karola Köpferl

Bild: Hilmar Uhlich, Fotos: Hilmar Uhlich und Stephan Weingart